DER TAG DER FRAGEN – Das große Prequel zu Knickerbockerbande4immer „Schatten der Zukunft“
ES WAR IM JUNI.. NUR KURZE ZEIT VOR DER REISE VON AXEL, LILO UND POPPI NACH NEW YORK, ZU DOMINIK!
Dominik lag in seinem Bett auf dem Rücken und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Sein Herz hämmerte wie verrückt, und als er sich bewegte, fühlte er, wie das Laken feucht an seinen nackten Beinen klebte.
Er hörte sein eigenes Keuchen, und es klang wie nach dem Sprint, den er am Ende seines Trainingslaufs durch den Central Park immer hinlegte.
Heftiges Schwitzen, schnelles Atmen, Herzklopfen – hatte er eine Panikattacke?
„Uhrzeit“, sagte er in die Dunkelheit. Das kleine Gerät auf seinem Nachtkästchen antwortete mit mechanischer Stimme: „Es ist fünf Uhr und zwölf Minuten.“
Wann war er ins Bett gegangen? Dominik erinnerte sich nur sehr dunkel an seine Heimkehr von der Party, die er am Abend zuvor besucht hatte. Es war ein ohrenbetäubendes Fest gewesen, auf dem Blogger und Instagramer ausgezeichnet worden waren. War es ein Uhr gewesen oder zwei Uhr? Sein Mund war trocken, seine Zunge fühlte sich an wie ein Stück Holz. Er kroch aus dem Bett und tappte Richtung Badezimmer. Nachdem er die Toilette benutzt hatte, nahm er zwei Schmerztabletten. Sein Kopf tat höllisch weh. Zum Trinken hielt er den Kopf einfach unter die Wasserleitung. Beim Aufrichten musste er sich am Rand des Waschbeckens anhalten, weil sich der Raum um ihn drehte.
Schuldgefühle wegen des aufkommenden Katers meldeten sich, aber er wischte sie weg. Schließlich konnte er sich nach einer anstrengenden Drehwoche auch einmal unterhalten. „Licht an“, befahl er. Sofort ging das Licht im Badezimmer mit dem edlen, grauen Marmorboden an. Dominik schloss schnell die Augen, da er das Gefühl hatte, jemand hätte einen Eiszapfen in seinen Schädel gebohrt. Wie viele Drinks er wohl gehabt hatte, überlegte er. Schwach konnte er sich an das blaue und rosafarbene Zeug in Cocktailgläsern erinnern, das serviert worden war. Die Party war zur Präsentation eines neuen Sake genutzt worden. „Aber ich trinke doch gar keinen Sake“, fiel Dominik ein.
Er hatte auf der Party eine Weile mit einer sehr schlanken, sehr langbeinigen Brünetten geflirtet, die ihren Körper in ein hautenges, knallrotes Kleid gezwängt hatte. Sie hatte ihm Komplimente zu seiner Rolle in „Bad Boys“ gemacht, der Fernsehserie, die er gerade drehte. Außerdem hatte sie absichtlich ihre Hüften ständig an ihm gerieben und ihm sogar sanft gegen sein Ohr gepustet. Als sie ihn dann aber gefragt hatte, ob er nicht ein gutes Wort bei den Produzenten der Serie für sie einlegen könnte, hatte er sie stehengelassen. Er war sauer gewesen und seine schlechte Laune war noch größer geworden, weil es auf der Dachterrasse im 52. Stockwerk scheinbar nur diesen ekeligen Sake gab. Dominik hatte einen der Burschen, der mit einem Tablett voller Gläser herumgegangen war, heftig angeschnauzt und aufgefordert, ihm ein Glas Rotwein zu bringen. Der Bursche, ein pickeliger Junge mit großen, erschrockenen Augen, war sofort geflüchtet.
Der Schweiß auf Dominiks Stirn war kalt. Überhaupt fror er. Er wankte zurück zu seinem Bett und befahl dem Gerät, ihm die Zimmertemperatur zu nennen. „Vierundzwanzig Grad Celsius.“
Was war los mit ihm? Als Dominik wieder auf dem Rücken lag und nach oben starrte, tauchten vor seinen Augen die Zwillinge auf, die dieses Jeans-Modelabel betrieben. Sie hatten ihn angequatscht.
An das Glas Rotwein konnte er sich nun auch wieder erinnern. Er hatte es schließlich bekommen. Irgendwer hatte es ihm hingehalten. Auf einem Tablett? Oder in einer Hand? Weil er unbedingt Alkohol brauchte, um sich zu entspannen, hatte Dominik es in einem Zug geleert. Noch immer konnte er auf seiner Zunge dieses Brennen spüren, das der Wein ausgelöst hatte. Obwohl er jetzt in seinem Bett lag, begann sich rundum Dominik wieder alles zu drehen. Es war nur ein Glas gewesen. Ein Glas schlechter Rotwein. Trotzdem war er danach betrunken gewesen, als hätte er eine Flasche Whisky geleert. Stück für Stück fielen ihm weitere Details ein. Er war in einer Ecke gesessen. Grünpflanzen in Containern waren vor ihm gestanden. Jemand hatte sich neben ihm niedergelassen, aber er hatte alles nur verschwommen gesehen. Es war eine Frau gewesen. Nicht sehr schlank und nicht sehr groß. Ihr Bild tauchte dunkel vor ihm auf. Sie hatte ihm Fragen gestellt und er – jetzt wurde es immer merkwürdiger … Dominik hatte eine vage und sehr entfernte Erinnerung, dass er zu sprechen begonnen hatte. Sein Mund hatte sich von allein bewegt und er hatte geredet und geredet. Wieso aber hatte er das getan? Es war um seine Freunde gegangen, die in sehr naher Zukunft in New York eintreffen würden: Lilo, Axel und Poppi, die anderen drei Mitglieder der Knickerbocker-Bande, wie sie sich als Kinder genannt hatten. Nun waren sie alle erwachsen und vor einigen Wochen hatten sie einander nach zwanzig Jahren wiedergesehen. Es waren mysteriöse Umstände gewesen, die sie auf einer einsamen Felseninsel vor der Südküste Englands zusammengebracht hatten. Es war Dominik, als könnte er hallend – wie in einer Kirche – seine eigene Stimme hören. Er hatte von seinen Plänen für den Besuch der alten Freunde erzählt. Er hatte Restaurants genannt, und wenn es stimmte, was er da fühlte, dann sogar die genauen Daten, an denen er die einzelnen Tische gebucht hatte. Er hatte sie vom Kalender seines Smartphones abgelesen. Die Frau hatte das Telefon aus seiner Hand genommen und Dominik hatte es nicht verhindern können. Seine Finger hatten ihm nicht gehorcht und es war ihm entglitten. Dominik hoffte inständig, es möge sich nur um einen Albtraum gehandelt haben. Die Bilder, die Geräusche, die Stimmen und Gerüche, alles ballte sich in seinem Kopf zu einem feuchten, grauen Nebel zusammen.
Das Nächste, das er hörte, war ein Gong.
Er wischte sich mit den Händen über das Gesicht und richtete sich im Bett auf. Unter den Kanten der Verdunkelungsrollos in seinem Schlafzimmer war ein sehr heller Streifen Tageslicht zu sehen.
„Wie spät?“, knurrte er.
Artig antwortete das Gerät: „Es ist zehn Uhr und zweiundfünfzig Minuten.“
Ding-dong. Ding-dong.
Jemand war an seiner Haustür. Dominik stand auf und holte seinen Bademantel. Im Gehen schlüpfte er hinein. Als er durch den Türspion blickte, sah er seinen Agenten Larry auf dem Gang stehen. Der Portier in der Halle des Hochhauses hatte ihn heraufgelassen, weil er Larry kannte.
Dominik entriegelte die Tür und öffnete sie.
„Wieso hebst du dein Handy nicht ab?“, fuhr ihn Larry an.
„Morgen“, brummte Dominik verschlafen.
„Ich habe dich schon mindestens zehnmal angerufen.“
Suchend sah sich Dominik in der Diele um. Normalerweise legte er das Handy zum Laden auf eines dieser neuen, drahtlosen Ladegeräte. Es stand neben der Schüssel, in die er seine Schlüssel und die Geldtasche warf, wenn er nach Hause kam. Während die beiden Sachen an ihrem gewohnten Platz gelandet waren, war das Ladegerät leer. Dominik ging weiter ins Wohnzimmer, von wo er hinunter auf die Baumkronen des Central Parks sehen konnte. Auch im Wohnzimmer war das Handy nirgendwo zu sehen. Im Schlafzimmer lagen seine dunkle Hose, das weiße Hemd, Boxershorts und Socken auf dem Boden.
Kein Handy.
„Ist weg“, sagte er zu Larry, der ihm gefolgt war.
„Sag, was war das gestern auf der Party? Wieso hast du dich wieder derart volllaufen lassen?“ Sein Agent blickte ihn wie ein strenger Vater an.
„Habe ich nicht.“
„Nicht? Dann musst du aufpassen, denn der Alkohol scheint bereits deine Hirnzellen zu zerstören. Du warst so voll, dass ich dich nach Hause bringen musste. Sogar die Tür zum Apartment musste ich für dich aufsperren.“
„Ich hatte nur ein Glas Rotwein.“
Larry lachte auf, weil er ihm nicht glaubte. „Ab unter die Dusche mit dir, ich brate uns ein paar Eier. Nach dem Frühstück nehme ich dich mit zu meinen Eltern in die Hamptons. Frische Luft tut dir gut. Du musst in der nächsten Zeit frisch sein.“ Etwas in Larrys Stimme ließ Dominik stutzig werden. „Wieso sagst du das so? Frisch sein? Bin ich doch immer. Oder habe ich schon einen einzigen Drehtag verbockt?“
„Nein.“ Larry machte eine Geste, die alles und nichts bedeutete. „Einfach so.“
„Verschweigst du mir etwas?“
„Ich kann dir nichts sagen. Oder besser ausgedrückt: Ich will dir nichts sagen. Aber es ist ratsam, dass du topfit bist. Die Verführungen von Manhattan sind zu groß, und deshalb parke ich dich lieber bei meinen Eltern.“
Weil er sich noch immer benebelt fühlte, fragte Dominik nicht weiter, sondern ging unter die Dusche. Er ließ das warme Wasser lange über sein Gesicht und dann den Rücken rinnen, aber die gewünschte Erfrischung trat nicht ein. Er fühlte sich immer noch wie gerädert. Als er etwas später mit Larry an dem kleinen Tisch in der Küche saß, stocherte er lustlos in den Spiegeleiern. Er stand auf und holte eine Packung Orangensaft aus dem Kühlschrank, setzte sie an den Mund und leerte sie mit großen Schlucken. Aber auch davon konnte sein Durst nicht gestillt werden.
„Larry.“ Sein Agent blickte auf. Er hatte wie immer einen sehr guten Appetit.
„Ja?“
„Ich glaube, mir hat jemand etwas in den Wein gemischt.“
„Es gab keinen Wein auf der Party.“
„Ich habe ein Glas bekommen.“
„Unmöglich.“
„Ich weiß doch, was ich trinke. Es war Rotwein, der scheußlich geschmeckt hat. Sonst hatte ich nichts.“
„Das ist unmöglich.“
„Wir fahren zu Dr. Zambo.“ Das war Dominiks Hausarzt, der sich auf Schauspieler und ihre echten und eingebildeten Krankheiten spezialisiert hatte.
„Er wird dir das Gleiche sagen wie ich: zu viel getrunken, stark verkatert.“
„Und? Was hat er gesagt?“ Poppi hatte ihr Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, weil sie ihre Kopfhörer nicht finden konnte und unbedingt mit dem Bügeln fertig werden wollte.
„Ich habe einen Alkoholtest bei ihm gemacht.“
„Ins Röhrchen gepustet.“
„Ja. So ähnlich. Ich war stocknüchtern, und das hätte ich nicht sein können, wenn ich wirklich so viel getrunken hätte, wie Larry gemeint hat.“
„Dominik, heißt das, jemand hat dir Drogen verabreicht? Heimlich? Im Wein? Wozu?“
„Das kann ich mir selbst nicht erklären. Ich habe da nur diese vage Erinnerung, dass ich viel geredet habe. Mein Handy ist übrigens nicht auffindbar. Wahrscheinlich gestohlen.“
„Das kann man heutzutage doch finden? Klaus hat seines vor kurzem verlegt und hat es über den Computer orten können.“
„Meines muss ausgeschaltet sein. Jedenfalls springt sofort die Mobilbox an, wenn man anruft.“
Poppi kam ein Gedanke. „Vielleicht hat dich eine Reporterin unter Drogen gesetzt, damit du ihr alle deine Geheimnisse anvertraust.“
„So weit gehen die Journalisten nicht einmal in New York.“
Wieder war ein Hemd von Klaus fertig und Poppi hängte es am Kleiderbügel auf eine Stange neben dem Bügelbrett. Sie nahm sich nun ihre T-Shirts vor.
„Hat dein Arzt dir auch Blut abgenommen, um es auf Drogen zu untersuchen?“
Dominik druckste mit der Antwort herum. „Ich hasse es, wenn mir Blut abgenommen wird. Darum wollte ich es nicht. Der Doktor hat außerdem gemeint, es wäre sehr aufwendig und schwierig, etwas nachzuweisen, weil wir keine Ahnung haben, wonach wir suchen.“
„Vielleicht hat dir jemand auch nur ein Betäubungsmittel gegeben, um dein Handy zu stehlen.“
„Das war kein Betäubungsmittel.“
„Woher willst du das wissen?“
„Na ja, denke ich einfach. Weil mir doch niemand mitten auf einer Party ein Betäubungsmittel verabreicht. Schließlich könnte ich einfach umfallen!“
„Nein, es gibt Mittel, die versetzen dich nur in einen kleinen Dämmerschlaf. Sie werden in der Medizin häufig bei kleinen Operationen eingesetzt.“
„Ich gehe dann mountainbiken“, rief Klaus Poppi zu.
„Dominik, ich muss Schluss machen“, entschuldigte sie sich.
„Und ich schlafe weiter. Das ist auch das Einzige, was ich hier bei Larrys Eltern tun kann.“
„Schönes Wochenende!“
Sie verabschiedeten sich, und Poppi legte das Handy weg. Sie lief aus dem Wirtschaftsraum im Keller hinauf in das Erdgeschoss des kleinen Hauses, das sie mit ihrem Mann bewohnte. Klaus stand in der Verbindungstür zur Garage, er trug seine Radfahrbekleidung und hielt seinen Helm in den Händen.
„Ich fahre heute länger“, sagte er. „Es kann später werden. Du musst mit dem Abendessen nicht auf mich warten.“
„Schade, ich dachte, ich mache uns heute Lasagne.“
„Können wir die nicht morgen essen?“
„Das können wir.“
Klaus beugte sich vor und küsste Poppi auf die Wange. Danach drückte er den Knopf an der Wand, um das Garagentor zu öffnen. Neben dem Wagen stand sein Mountainbike. Er schob es hinaus und setzte seinen Helm auf. Dann drehte er sich noch einmal um und fuhr davon.
Poppi folgte ihm bis hinaus auf die Straße und winkte ihm nach. Als sie in die Garage zurückkam, fiel ihr etwas ein. Sie öffnete den Wagen und holte ein kleines Säckchen aus dem Handschuhfach. Sie hatte es dort versteckt, als sie mit Klaus einkaufen war. Während er sich neue Hosen zum Radfahren besorgt hatte, war sie in die Apotheke gelaufen und hatte einen Schwangerschaftstest erstanden. Es war noch zu früh dafür, aber sie wollte vorbereitet sein. Vielleicht hatte es diesmal geklappt. Sie hatten die Tage, die ihnen ihr Arzt empfohlen hatte, gut genutzt..
Poppi drückte die Taste zum Schließen des Garagentors. Während sie wartete, weil es manchmal bei der Hälfte stecken blieb, fiel ihr Blick auf zwei kleine Teile, die in dem Regal lagen, in dem Klaus die Luftpumpe und das Werkzeug für das Fahrrad aufbewahrte. Es waren zwei Lampen, die er vorne und hinten auf sein Fahrrad steckte, wenn er im Dunkeln unterwegs sein würde.
Er hatte sie vergessen. Poppi rief ihn auf seinem Handy an, aber sie kam sofort auf die Mobilbox.
Seltsam, dass Klaus die Lampen vergessen hatte. Er dachte doch sonst immer an alles. In der Praxis kontrollierte er jeden Abend, bevor sie nach Hause fuhren, ob alle Geräte abgestellt waren, die Medikamentenschränke gut verschlossen waren und kein Licht brannte.
Das heißt.. Poppi stutzte. In der vergangenen Woche hatte sie am Morgen einmal ihren Röntgenapparat und das Ultraschallgerät eingeschaltet vorgefunden. Die Ordination von acht bis zehn Uhr morgens übernahm sie meistens allein, während Klaus im Tiergarten nach ihren Patienten sah. Auch der Schrank mit den Ampullen der Narkotika war offen gewesen.
War er überlastet? Oder war er abgelenkt? Aber wovon? Poppi beschloss, ihn am Abend zu fragen, ob alles in Ordnung war.
Aber dazu kam es nicht. Um kurz nach siebzehn Uhr erhielt sie einen Anruf, der sie überraschte und zugleich erschreckte. Sie tat ihn als Scherz ab, wurde aber trotzdem dieses Gefühl nicht los, dass er echt gewesen sein könnte.
Gleich dreimal rief sie Lilo deswegen an. Endlich, es war bereits halb elf Uhr in der Nacht, kehrte Klaus heim. Poppi, die gerade Lilo am Apparat hatte, verabschiedete sich hastig und stürzte sich auf ihren Mann.
„Das FBI hat angerufen. Kannst du dir das vorstellen?“
Klaus runzelte zweifelnd die Stirn. „Das FBI? Das kann doch nur ein Scherz sein.“
„Ich habe mindestens zehn Mal auf deinem Handy angerufen, bin aber immer auf die Box gekommen. Da kann doch etwas nicht stimmen“, sagte Poppi vorwurfsvoll.
„Mein Handy ist im Arbeitszimmer angesteckt. Der Akku war leer.“
Das erklärte natürlich, wieso Poppi immer auf die Mobilbox gekommen war.
„Aber was ist das mit dem FBI?“, wollte Klaus jetzt wissen. Da er noch im Radgewand war, setzte er sich vorsichtig auf die Lehne des Sofas, neben Poppi.
„Jemand hat mich angerufen, ein Mann, der Protoposch heißt oder so. Jedenfalls hat er das gesagt.“
„Poppi, bitte beruhige dich“, Klaus bedeutete ihr, langsamer zu reden und erst einmal durchzuatmen.
„Er hat mir Fragen gestellt – über Canon Island, über Hermes und über mögliche Drogen oder Substanzen. Woher weiß er das?“
„Weil ihr es der Polizei gesagt habt?“
„Nein, wir haben niemandem etwas von der Substanz erzählt, die uns Hermes als Kinder verabreicht hat.“
Nun wusste Klaus auch nicht weiter. „Scherzanruf war es wohl keiner.“
„Ich habe schließlich einfach aufgelegt, weil ich nicht mehr weiterwusste.“
„Hast du die Nummer angerufen, von der er telefoniert hat?“
„Es war keine angezeigt.“
Klaus atmete tief durch. „Ihr und eure ganzen Fälle und Geheimnisse.“ Er stand auf. „Ich bin total verschwitzt und gehe unter die Dusche.“
Poppi nickte abwesend.
Axel sah von dem Buch auf, aus dem er seiner Tochter Lotta vorlas. Er saß auf der Kante des ausgezogenen Schlafsofas in Lilos Arbeitszimmer und blickte fragend zu Lilo, die in der Tür stand.
Lottas Kopf, umrahmt von den dunklen kleinen Locken, war leicht zur Seite gesunken. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig. Auf Lilos Schreibtisch gab es eine kleine Arbeitslampe, die Axel so verbogen hatte, dass der Schein gegen die Wand fiel. So war es im Zimmer nicht ganz dunkel, falls Lotta in der Nacht aufwachen sollte. Sehr langsam erhob sich Axel, um Lotta nicht zu wecken. Auf Zehenspitzen schlich er zur Zimmertür. Nachdem er einen letzten Blick auf seine Tochter geworfen hatte, zog er die Tür zu, ließ sie aber angelehnt.
Im Wohnzimmer, das gleich daneben lag, gönnten sich Lilo und er noch ein Glas Weißwein als Schlummertrunk. Es war wie ein Ritual bei ihren Treffen geworden, einen Schlaftrunk zu nehmen, sich zuzuprosten und sich über das Wunder auszutauschen, zusammen zu sein und Zeit miteinander zu verbringen.
Als Paar.
Keiner der zwei hätte sich das noch vor ein paar Monaten vorstellen können. Aber wie hieß es so schön: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.
„Ich glaube, Lotta hat der heutige Tag gefallen?“ Es war mehr eine Frage, die Lilo da stellte. In ihrer Stimme lag etwas Flehendes, denn nichts wäre für sie schlimmer, als von Axels Tochter abgelehnt zu werden. Die Beziehung, die zwischen ihm und ihr begonnen hatte, wäre dann unweigerlich zu Ende gewesen.
„Sie hat die ganze Zeit von den Kristallwelten gesprochen“, sagte Axel. Er war am Vortag mit Lotta in Innsbruck angekommen. „Danke für die Schatztruhe, die du ihr gekauft hast.“
„Ach, nicht der Rede wert.“ Lotta hatte mit großen Augen eine kleine Schatulle hinter dem Glas der Verkaufsvitrine in den Kristallwelten angestarrt, die mit den berühmten bunten Kristallen gefüllt war. Auch wenn Lilo für solche Dinge wenig Sinn hatte, musste sie zugeben, dass es ein schönes Gefühl war, in den Steinen mit dem Finger zu rühren und zu wühlen. Lotta hatte jeden einzelnen Kristall im Licht angesehen und sein Funkeln bewundert.
„War das vorhin wieder Poppi?“, wollte Axel wissen.
Lilo nickte. „Sie kann sich nicht beruhigen wegen des Anrufs vom FBI.“
„Glaubst du, war der echt?“
„Ich kann es wirklich nicht sagen. Aber ich gebe Poppi recht: Verwunderlich ist, dass jemand von der Substanz weiß, die wir da als Kinder verabreicht bekommen haben.“
Axel nippte an seinem Wein und holte sich aus der kleinen Küche ein Glas Wasser.
„Meinst du, dass dieser Hermes noch lebt?“
Aber diese Frage konnte auch Lilo nicht beantworten. Die Strömung am Fuße der Klippen von Beachy Head war sehr stark. Seine Leiche – falls er wirklich abgestürzt war – könnte fortgerissen worden sein. Deshalb war sie nie gefunden worden.
Oder er lebte noch.
Ihr fiel etwas ein. „Wenn er noch lebt und auf diese Weise mit uns Kontakt aufnehmen will? Er gibt sich als Agent des FBI aus.“
„Wozu?“ Axel konnte dem Gedanken wenig abgewinnen.
„Weil er wahnsinnig ist.“
„Na und?“
„Poppi ist die Schwächste von uns, vielleicht versucht er sie auszuhorchen, um zu erfahren, wo wir sind und was wir vorhaben.“
„Aber was soll dieser Hermes mit dieser Information? Er weiß so gut wie wir, was es mit der Substanz von damals auf sich hat und was sie bei uns wirklich ausgelöst hat.“
Da musste ihm Lilo recht geben. „Stell dir übrigens vor, Dominik hat sich bei Poppi gemeldet. Er behauptet, jemand hätte ihm eine Art K.-o.-Tropfen verabreicht. Auf einer Party.“
„Ist er ausgeraubt worden?“
„Nein, oder nicht wirklich. Laut seiner Angabe mehr ausgehorcht. Aber sein Handy wurde gestohlen.“
Axel wanderte in Lilos Wohnzimmer zwischen den Möbeln herum. „Seit unserer Rückkehr von Canon Island war Ruhe. Jetzt auf einmal wird Dominik betäubt.“ Axel stockte. „Moment, dann kann er keine K.-o.-Tropfen bekommen haben, wenn ihn jemand ,aushorchen‘ wollte.“
„Es muss etwas Ähnliches gewesen sein“, verbesserte sich Lilo.
Axel nickte. „Und dann meldet sich das FBI. Ob das Zufälle sind?“
„Wenn man es berechnen würde, wäre die Wahrscheinlichkeit für eine solche Abfolge und Nähe der Vorfälle nicht sehr hoch.“
„Ja, Frau Professor.“ Axel rollte die Augen. Lilos Beruf, Dozentin für Mathematische Physik und Technische Chemie, ließ sie öfters so kompliziert denken.
„Warten wir ab, was der morgige Tag bringt“, meinte sie.
„Für uns den Alpenzoo, nicht wahr?“
„So hätte ich es geplant, wenn es Lotta recht ist.“
„Lotta mag alles, und sie mag dich!“ Axel trat neben Lilo und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie drehte sich zu ihm und er küsste sie zart. Sie lächelten einander an.
Wenig später gingen sie in Lilos Schlafzimmer. Es war noch immer etwas Ungewohntes für sie, sich voreinander zu entkleiden. Axel zog sich meistens diskret ins Bad zurück, um sich die Zähne zu putzen. Mit seiner Hose und den Socken unter dem Arm kehrte er in Boxershorts und T-Shirt ins Schlafzimmer zurück, wo Lilo mittlerweile in das übergroße T-Shirt geschlüpft war, das sie in der Nacht trug.
Wenig später lagen sie beide unter der dünnen Sommerdecke. Axel stand noch einmal auf, um nach Lotta zu sehen, die aber tief und fest schlief, den großen Kuschelhasen, den ihr Lilo zur Begrüßung auf das Sofa gesetzt hatte, fest im Arm.
Lilo und Axel lagen nebeneinander und hielten einander an der Hand. Die Schlafzimmertür stand einen Spalt offen, damit sie hören konnten, falls Lotta in der Nacht nach Axel rief.
„Na dann, schlaf gut“, sagte Axel leise. Sie drehten ihre Köpfe zueinander, in der Dunkelheit aber landete sein Kuss auf Lilos Kinn. Verlegen lachte sie und küsste ihn dann richtig.
Der Lichtschein der Straßenbeleuchtung, der in der Nacht über Innsbruck lag, fiel durch die schrägen Dachfenster des Schlafzimmers. Lilo konnte lange nicht einschlafen.
Sie musste über so vieles nachdenken. Das Denken war ihr größtes Problem, da sie es einfach nicht abstellen konnte. Ständig wanderten Fragen durch ihren Kopf.
Fragen zu vielen verschiedenen Themen.
Nicht mehr lange, und sie flogen nach New York. Lilo freute sich auf das Wiedersehen mit Dominik und Poppi und war neugierig auf die Stadt, in der sie das letzte Mal vor mehr als zwanzig Jahren gewesen war. Damals, als sie den Fall „Frankensteins Wolkenkratzer“ lösten. Die Tage in New York würden Lilo guttun. Ihr und Axel. Außerdem hatten die vier Freunde von früher bestimmt viel Spaß gemeinsam. Wie wunderbar, dass sie einander wiedergefunden hatten. Lilo stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete den schlafenden Axel.
Sie ließ sich wieder auf das Kissen sinken und seufzte leise.
Was würde die Zukunft bringen? Wenn sie das doch nur berechnen könnte.
Aber nicht die raffinierteste mathematische Formel wäre in der Lage gewesen zu errechnen, was den vier Freunden bevorstand.
* * * * * * *
Knickerbockerbande4immer Band 2 „Schatten der Zukunft“ erscheint am 20.9.
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Zum Anhören gibt es das Prequel in Kürze ebenfalls!
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Lesetour-Termine:
Fr, 21.9.2018, 19:00 Uhr, Thalia W3, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien – Eintritt frei, keine Anmeldung
Di, 25.9.2018, 19:00 Uhr, Thalia Linz, Landstraße 41, 4020 Linz – Eintritt frei, keine Anmeldung
Mi, 26.9.2018, 19:30 Uhr, BH Tyrolia Innsbruck, Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck – Eintritt frei, keine Anmeldung
Do, 27.9.2018, 19:00 Uhr, BH. Brunner Bregenz, Rathausstraße 2, 6900 Bregenz – Eintritt frei, Anmeldung via brunnerbuch.at
Mi, 3.10.2018, 19:00 Uhr, BH. Heyn Klagenfurt, Kramergasse 2, 9020 Klagenfurt am Wörthersee – Eintritt 10€, Anmeldung via buch@heyn.at
Do, 4.10.2018, 19:30 Uhr, BH Moser Graz, Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz – Eintritt frei, keine Anmeldung
Kinderlesung: Di, 23.10.2018 , 15:00 Uhr, Stadtbücherei Krems, Körnermarkt 14, 3500 Krems an der Donau – Eintritt 4€/2€ (Erwachsene/Kinder), Anmeldung via buecherei@krems.gv.at
Di, 23.10.2018 , 19:00 Uhr, FH. St.Pölten, Matthias Corvinus-Straße 15, 3100 St. Pölten – Eintritt frei, keine Anmeldung
Mi, 24.10.2018, 19:00 Uhr, Tri:Bühne – Stadt:Bibliothek Salzburg, Tulpenstraße 1, 5020 Salzburg – Eintritt frei, Anmeldung via stadtbibliothek@stadt-salzburg.at
Kinderlesung: Do, 25.10.2018, 09:00, Stadt:Bibliothek Salzburg, Tulpenstraße 1, 5020 Salzburg – Eintritt frei, Anmeldung via stadtbibliothek@stadt-salzburg.at
Verena Bauer
12. September 2018Hallo Thomad!
Mit viel Neugier las ich den Prequel zum neuen KBB4immer – und – was soll ich sagen, jetzt bin ich noch neugieriger auf das was da wohl wieder im Busch ist. Mich freuts, dass Axel und Dominik ein Paar sind, hoffe aber auch, dass Poppis Ehemann ihr die Treue hält (so zuerstreut wie er ist und ohne Licht Rad fährt). Du hast die Gabe, schon in kurzen Geschichten so viel Spannung reinzubringen – ich liebe die Bücher der KBB seit ich 13 bin – und jetzt mit fast 40 freu ich mich umso mehr. Als ich den ersten Teil las, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Es war eine ganz tolle Zeitreise und freu mich wahnsinnig auf den Folgeroman. Eine Frage noch: Kommst du gar nicht in die Steiermark zu einer Lesung?
Bitte mach weiter so – positiv eingestellt und gute Bücher schreibend!
LG, Verena!
Michael Prügl
13. September 2018Thomas ist am 4.10. in Graz, Details siehe oben 😉
Beste Grüße, Michael vom Team Thomas Brezina
roland
12. September 2018coole Geschichte, ich bin ja schon gespannt, was passieren wird.
ich bin jez 33 Jahre alt und wenn ich nach Innsbruck fahre, denk ich immer noch, dass in dieser Stadt die lilo wohnt, genau so in Graz, Linz und Wien.
und ich hab angefangen mir zu Städten in die ich fahr die Knickerbocker banden Bücher von früher zu besorgen, weil einfach lustig ist mit der bände die Geschichten noch einmal zu erleben und vor allem an den originalen Schauplätzen.
Manuela
13. September 2018Vielen Dank für das tolle Prequel-ich kanns kaum erwarten endlich „Schatten der Zukunft“ zu lesen ♡!!! Deine Bücher sind einfach toll!!!
Ganz liebe Grüße ????
Christoph
13. September 2018Tolle Kurzgeschichte! Freu mich schon auf das neue Buch nächste Woche! Bitte weiter so!!!
Roland
13. September 2018Ist jetzt schon spannend.Freue mich schon drauf.
Sabrina
1. Oktober 2018Ich habe das Prequel erst nach dem Buch gelesen und muss sagen es passt sehr gut, sowohl die Kurzgeschichte als auch das Buch sind super geworden und ich hoffe sehr stark das es nicht damit endet. Man will einfach wissen wie es mit den 4 Freunden weiter geht.
Bis dahin vielen lieben Dank für die spannende aber auch durch teilweise amüsante Geschichte .
Liebe Grüße aus der Mitte Deutschlands